Berliner Erklärung 2024

Berliner Erklärung 2024

Am 3. Juni 2024 hat Landtagspräsidentin Hanna Naber an der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente, des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in Berlin teilgenommen. Aus aktuellem Anlass ging es auch um die am 9. Juni 2024 anstehende Europawahl. Gemeinsam rufen die Präsidentinnen und Präsidenten zur Teilnahme an der Wahl auf. Darüber hinaus wurde eine "Berliner Erklärung" zur Bedeutung des Föderalismus verabschiedet.

 

 

Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente, des Deutschen Bundestages und des Bundesrates im Juni 2024 in Berlin. (© Abgeordnetenhaus von Berlin/Lars Wiedemann)
Landtagspräsidentin Hanna Naber (2. v. re.) während der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente, des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in Berlin. (© Abgeordnetenhaus von Berlin/Lars Wiedemann)

Wortlaut der "Berliner Erklärung"

Vor 75 Jahren trat das Grundgesetz als Fundament unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung in Kraft. Seit der Friedlichen Revolution 1989 und dem danach erfolgten Beitritt 1990 zum Grundgesetz gilt es für alle 16 Bundesländer. Diese Verfassung hat die Bundesrepublik Deutschland zu einer starken Demokratie geformt, die Freiheit und Wohlstand für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglicht. Die Demokratie ist nicht nur ein politisches System, sondern die Grundlage für unsere persönliche und gesellschaftliche Entfaltung und Freiheit.

In ihrer Entschließung von Wiesbaden haben sich die Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente im Jahr 2016 zum Föderalismus bekannt und betont, dass es zu diesem Staatsstrukturprinzip in Deutschland keinen tragfähigen Gegenentwurf gibt. In der Entschließung stellen die Präsidentinnen und Präsidenten fest, dass sich der Föderalismus bewährt hat, weil er ausgleichend und stabilisierend wirkt und politischen Extremen vorbeugt. Er ist demokratieförderlich, ermöglicht mehr Bürgernähe, verbessert die staatliche Aufgabenerfüllung und wirkt freiheitssichernd statt ein Effizienzdefizit darzustellen.

In ihrer Bremischen Erklärung zum Föderalismusdialog haben die Präsidentinnen und Präsidenten im Jahr 2022 betont, dass der Föderalismus in besonders herausfordernden Zeiten ein unverzichtbares Element der Gewaltenteilung ist und dass die Öffentlichkeitsfunktion der Landesparlamente in allen Bundesländern gerade dann die Transparenz politischer Entscheidungen sicherstellt und damit für die Legitimität staatlicher Gewalt maßgeblich ist.

Die fortlaufenden Entwicklungen, Krisen und Herausforderungen sowie die Fragilität der Demokratie durch Extremismus und feindliche Kräfte innerhalb der Bundesrepublik und von außen in die Bundesrepublik hineingetragen, stellen auch den deutschen Föderalismus auf die Probe.

Die Präsidentinnen und Präsidenten der Landtage erklären gemeinsam:

  1. Unsere parlamentarische Demokratie, getragen vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und den Landesverfassungen aller 16 Bundesländer, garantiert, dass jede Stimme gleichwertig zählt und dass politische Entscheidungen transparent und legitim getroffen werden. Sie sichert unsere Grundrechte und Freiheiten und ermöglicht eine Gesellschaft, in der Pluralität und Meinungsvielfalt respektiert werden.

    Dabei schützt uns unsere freiheitlich demokratische Grundordnung vor totalitärer Herrschaft, Willkür und Machtmissbrauch. Sie gewährleistet die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung, die essenziell für das Funktionieren eines Rechtsstaates sind. Diese Prinzipien müssen stets verteidigt und gefördert werden, um die Stabilität und Integrität unserer Demokratie zu bewahren.

    Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, die Demokratie und die damit verbundenen Freiheiten zu bewahren und weiterzuentwickeln. Demokratische Institutionen müssen kontinuierlich gestärkt und vor Gefahren von innen und außen geschützt werden.
  2. In Zeiten wachsender autokratischer Tendenzen weltweit ist es unerlässlich, die Widerstandsfähigkeit unserer demokratischen Institutionen zu fördern. Das gilt nicht nur für das Grundgesetz, sondern auch für die Landesverfassungen und insgesamt für alle drei Staatsgewalten. Es muss sichergestellt sein, dass unsere demokratischen Strukturen robust genug sind, um autokratischen Bestrebungen zu widerstehen und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig zu schützen.

    In Krisenzeiten gewinnt sowohl die vertikale Koordination zwischen den Regierungen von Bund und Ländern als auch die horizontale Koordination der Länder untereinander herausragend an Bedeutung. Im politikverflochtenen Bundesstaat ist Kooperation zwischen Bund und Ländern sowie der Länder untereinander unerlässlich für eine erfolgreiche Krisenbewältigung.

    Die Präsidentinnen und Präsidenten stellen fest und befürworten, dass eine bundesweit einheitliche Regulierung durch den Bund auch in herausfordernden Zeiten wie Naturkatastrophen, Pandemien usw. vom Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Sie sehen es als Wesenselement und Vorteil des Föderalismus, dass besondere lokale Problemlagen regional gelöst werden können. Zudem bietet der Bundesstaat die Möglichkeit, in einem Wettbewerb unter den Ländern die besten Bewältigungsansätze, Konzepte und Ideen zu finden. Denn Unterschiede im föderalen Normengeflecht zeigen auf, welche Alternativen in der Praxis besser, schlechter oder gleichermaßen funktionieren.

    Denn auch eine bundesgesetzliche Steuerung müsste bei einem sich schnell ändernden Krisengeschehen häufig abgeändert werden und eine entsprechende Regelungstiefe aufweisen. Von Vorteil ist im Gegenteil die größere – auch zeitliche – Flexibilität der Normgebung auf Länderebene.
  3. Ein föderaler Umgang mit besonderen Herausforderungen ermöglicht einen effektiveren Rechtsschutz als eine zentrale Krisenbewältigung auf Bundesebene, da gegen Rechtsverordnungen des Bundes unmittelbar kein verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden kann. Eine dezentrale Bearbeitung durch die Länderparlamente setzt zudem das Verhältnismäßigkeits- und Gleichheitsgebot bereits auf der Rechtsetzungsebene um, ist also im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Je mehr politisches Handeln dazu führt, dass Interessen der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigt werden können, desto eher ist der vom Volk unmittelbar legitimierte parlamentarische Gesetzgeber zu einer Abwägung der gegenläufigen Interessen berufen.
  4. Die Länder trifft aufgrund der faktisch schwerpunktmäßig beim Bund liegenden normativen Steuerung eine erhebliche Verantwortung bei der Umsetzung des Vollzuges. Die Präsidentinnen und Präsidenten stimmen darin überein, dass diese Verantwortung nicht nur den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, beispielsweise im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenzen, überlassen werden darf. Hier spielen die Landesparlamente auch durch den Erlass verordnungsvertretender Gesetze sowie durch ihre Kontrollfunktion eine wichtige Rolle.
  5. Die Präsidentinnen und Präsidenten sind sich einig, dass unsere freiheitliche demokratische und föderale Grundordnung ein ständiges Mitwirken des Volkes als Souverän voraussetzt. Nur durch gemeinsames Engagement können wir die Errungenschaften der letzten 75 Jahre bewahren und weiter ausbauen. Daher sehen es die Landtage als eine ihrer vordringlichen Aufgaben an, das Wissen um Aufbau und Nutzen des Föderalismus in Deutschland in der Bevölkerung weiter aktiv zu stärken.
  6. Aufgrund der historischen Erfahrungen, auch aus der Zeit des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur, wurde die zu große Machtansammlung in einem Zentralstaat als gefährlich erkannt. Diese Erkenntnis war grundlegend für die Festschreibung des Föderalismus im Grundgesetz und den Weg in die deutsche Einheit. Es ist unsere Verantwortung, diese Lehren nicht zu vergessen und unsere föderalen Strukturen, auch als Schutzmechanismus, zu bewahren. Jüngste demokratiefeindliche Entwicklungen stellen auch den deutschen Föderalismus auf die Probe. Deutschland braucht eine wehrhafte Demokratie, die stets so aufgestellt ist, dass sie den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen entschlossen gegenübertritt.