Der Gedenkstein auf dem Winser Rathaus-Vorplatz erinnert seit 2014 an die Ermordeten und Geretteten der sogenannten „Todesmärsche“. Etwa 4.000 Häftlinge – vor allem aus KZ-Arbeitslagern in und um Hannover – wurden Anfang April 1945 durch den Ort getrieben. Grund war, dass die Truppen der Alliierten näher rückten. „Kein Häftling darf lebendig in die Hände des Feindes fallen“, verfügte Heinrich Himmler, Reichsführer SS, am 14. April 1945. Die bereits von Arbeit und Hunger geschwächten KZ-Häftlinge wurden daher von Hannover zum KZ Bergen-Belsen getrieben – offiziell hieß es „evakuiert“. Wer unterwegs zusammenbrach und nicht mehr weiter marschieren konnte wurde von SS-Bewachern erschossen.
Wer mehr wissen möchte: Julius H. Krizsans Dokumentation „Die ‚Todesmärsche‘ durch Winsen (Aller) im April 1945“ ist erhältlich für fünf Euro beim Autoren: Krizsan-winsen@t-online.de
Zeitzeugen der „Todesmärsche“, die gibt es noch in Winsen (Aller): Heinrich Mangels, 87 Jahre alt, kam eigens zum Termin mit der Landtagspräsidentin. Er erinnerte sich genau an die Häftlinge, die „in Sträflingskleidung“ die Poststraße des Ortes entlang marschierten. 14 Jahre war er damals alt. Was ein Lager sei, habe er gewusst – auch als Jugendlicher. Sein Freund habe ihm erzählt, dass im Lager Bergen-Belsen die Gefangenen „die Rinde von den Bäumen“ gegessen hätten. Das habe sich ihm eingeprägt.
Aussagen wie diese hat der Initiator des Gedenksteins, Julius H. Krizsan, gesammelt und in einer umfangreichen Dokumentation festgehalten. Der Pädagoge engagierte sich jahrelang am Dokumentationszentrum KZ Bergen-Belsen. Das Schicksal der KZ-Häftlinge, die 1945 durch seinen Wohnort getrieben wurden, ließ ihm keine Ruhe: Er sichtete Dokumente, las Bücher, suchte nach Zeitzeugen. Mangels erzählte ihm, wie Frauen des Ortes den erschöpften Häftlingen gegen den Widerstand der Wachmannschaften versuchten, Wasser anzureichen. Eine Aussage von mehreren, die langsam sich wie ein Puzzle zusammenfügten.
Dann stieß Krizsan auf den Fall des Tischlers Wilhelm Scheinhardt, die Geschichte eines Mutigen. Der Mann versteckte mit seiner Frau neun französische Häftlinge, die den Wachen auf dem Durchmarsch entflohen waren in seinem Werkstattschuppen und setzte damit sein Leben aufs Spiel. Als verfolgter Kommunist war er selbst von den Nationalsozialisten inhaftiert gewesen, ahnte daher das Los der Gefangenen und half ohne zu zögern. Die letzte Lebende der geretteten französischen Frauen konnte Krizsan noch ausfindig machen. Bürgermeister Dirk Oelmann betonte, erst nach Krizsans Aufarbeitung werde im Ort über das Geschehen mehr geredet. „Ihre Arbeit ist für das Gedächtnis der Gemeinde so wichtig“, lobte er.
Die Erinnerung hält zudem der Gedenkstein wach, den der Rat nach einigen Diskussionen beschloss. Er steht etwas schräg und deutet damit die Marschrichtung der Häftlinge an. Auf ihm steht: „Einige beherzte Frauen haben versucht, trotz Bedrohung durch die SS-Wachmänner, mit Brot und Wasser zu helfen. Der Tischler Wilhelm Scheinhardt und sein Frau Alwine versteckten und versorgten neun französische Häftlinge bis zum Einmarsch der britischen Armee. Zwischen Ovelgönne und Walle wurde eine große Zahl von Häftlingen, die nicht mehr weiter konnte, von der SS erschossen.“ Dass die Initiative aus dem Ort selbst gekommen sei und Krizsan unermüdlich recherchiert habe, sei vorbildliches bürgerschaftliches Engagement, stellte Andretta fest.